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SUPPRESSED SCIENCE

The original text of the Appendix to Suppressed Science 3: Darwin Revisited


This is the original German version of the paper that appears in English as an Appendix to Suppressed Science 3: Darwin Revisited. The interest arose from a footnote in the second edition of Darwin’s Descent of Man, and the paper was quite difficult to obtain. I am told that the language used, High German, is quite beautiful. Obersteiner ridicules the opponents of Lamarckism, raising a number of interesting questions and some pertinent points about the origin of mental illness in humans (which is undoubtedly hereditary). The paper provides an insight into the scientific methods of the time. ‘On the Knowledge of a Few Hereditary Laws’ was published in Medizinische Jahrbücher vol. 2 (1875) pp. 179-188.

S.G.S.





Zur Kenntniss einiger Hereditätsgesetze

von

Dr. Heinrich Obersteiner

Privat-Docent an der Wiener Universität.


Die lange Zeit hindurch vergessenen, und noch immer nicht genügend gewürdigten Versuche von Brown-Séquard, der nach den verschiedenartigsten Verletzungen des Nervensystems, des peripheren wie des centralen, bei Meerschweinchen Epilepsie auftreten sah, haben mir eine willkommene Grundlage geboten, die Lösung einer Reihe sich daran knüpfender Fragen in Angriff zu nehmen. So hoffte ich zunächst den complicirten Process, der dieses künstlich erzeugte Bild einer Reflexepilepsie bedingt, anatomisch und physiologisch näher beleuchten zu können, ich wollte ferner versuchen, ob sich an diesen kranken Thieren nicht ein Fingerzeig auffinden lassen würde, um den richtigen Weg für die Behandlung der Epilepsie zu ergründen, und endlich hatte ich die Absicht, mit Bezug auf Brown-Séquard’s Angabe, dass die Epilepsie sich auch auf die Jungen vererbe, Studien über die Erblichkeit anzustellen.

Trotzdem das Materiale, über welches ich hinsichtlich des letzten Punktes verfüge, vorderhand noch ein relativ sehr kleines ist, so soll es doch gerade dieser allein sein, über den ich hier im Kurzen einige Angaben zu machen beabsichtige; ich will damit nur zeigen, wie auch in solchen dunklen, und dem Messer des Physiologen anscheinend nicht mehr zugänglichen Gebieten des organischen Lebens auf streng experimentellem Wege Thatsachen gewonnen werden können, welche ohne jegliche Würse von theoretischer Speculation unser Interesse beanspruchen dürfen. – Ich kann mir erst nach einer Reihe von Jahren, bis ich über viele hunderte von Thieren, welche von epileptischen Meerschweinchen abstammen, verfüge, einen halbwegs befriedigenden Abschluss meiner diessbezüglichen Untersuchungen denken; ein Grund mehr, diese folgenden kurzen Mittheilungen für jetzt vorauszuschicken.

Nachdem ich voraussetzen muss, dass die Methode von Brown-Séquard zur künstlichen Erzeugung der Epilepsie nicht allgemein bekannt ist, so möge derselben hier wenigstens eine rasche Erwähnung zu Theil werden. Brown-Séquard durchschnitt seinen Meerschweinchen das Rückenmark ganz oder nur einzelne Stränge oder aber den Nervus ischiadicus.

Ich habe mich in der letzten Zeit fast ausschliesslich der letzten Operation bedient, die bei einiger Uebung nicht mehr als 3/4 Minuten in Anspruch nimmt. – Einige Tage nach der Durchschneidung eines Nervus ischiadicus zeigt sich, dass an einer gegewissen Partie des Kopfes und Halses, auf der Seite der Operation die Empfindlichkeit abnimmt; kneipt man das Thier an dieser, Zone épileptogène genannten Gegend, so krümmt es sich nach der Seite der Verletzung, und es erfolgen einige heftige Kratzbewegungen mit dem Hinterbeine derselben Seite; wartet man wieder einige Tage, mitunter mehrere Wochen, so wird nach Kneipen in der Zone mit diesen Eratzbewegungen ein vollständiger epileptischer Anfall eingeleitet, in dem tonische und klonische Krämpfe abwechseln, und der gewöhnlich von der Bewusstlosigkeit, einem stuporösen Zustande, noch um eine merkbare Zeit überdauert wird.

In der Regel verschwindet nach Monaten wieder die Tendenz zu den Anfällen; das Wiederkehren des normalen Zustandes, wenn ein solcher überhaupt noch eintritt, manifestirt sich durch das Ausfallen der Haare in der epileptogenen Zone. Ich muss die Wiederherstellung eines vollkommen normalen Zustandes, nachdem das Thier einmal epileptisch gewesen, sehr in Zweifel ziehen, denn für’s erste habe ich noch nach Jahren, wenn die Thiere schon ganz gesund schienen, spontan oder auf Reizung einen Anfall eintreten gesehen, und für’s zweite sind die Jungen von bereits geheilten Thieren ebenso häufig, wenn nicht häufiger, hereditär belastet, als die Jungen noch mitten in dem Krankheitsprocesse stehender Thiere.

Westphal hat eine weitere Methode angegeben, an Meerschweinchen Epilepsie hervorzurufen; er versetzt denselben einen oder mehrere kräftige Schläge auf den Kopf, worauf sich alsbald ein epileptischer Anfall einstellt; im weiteren Verlaufe sind die Erscheinungen aber die gleichen, wie nach Ischiadicus-Durchschneidung. Diese letztere Art der Operation ist aber nicht von so constantem Erfolge, wie die früher angegebene, gefolgt; unter 12 derartig behandelten Meerschweinchen sind, obwohl alle nach dem Schlage exquisite Krämpfe zeigten, 9 späterhin vollkommen gesund geblieben, und nur bei dreien war die Möglichkeit vorhanden, von der epileptogenen Zone aus Anfälle hervorzurufen. Mit Sicherheit soll aber der epileptische Zustand eintreten, wenn man den Klopfversuch in Zwischenriumen von mehreren Tagen öfters wiederholt.

Westphal hat, wie Brown-Séquard, sich von der Uebertragung der Epilepsie auf die Jungen der operirten Thiere überzeugen können.

Zu den im Folgenden zu besprechenden Untersuchungen habe ich bei Anlegung der Zuchten ausschliesslich solche Thiere verwendet, welchen ein Nervus Ischiadicus (bei manchen beide Nerven) durchschnitten war.

Die Thatsache einer erblichen Uebertragbarkeit rein physischer, wie moralischer Eigenschaften, seien dieselben nun innerhalb der Grenzen des Normalen gelegen oder bereits als pathologisch aufzufassen, wird wohl von keinem naturwissenschaftlich gebildeten Denker geläugnet werden können; Hering hat dieselbe, in vielleicht nicht überzeugender, jedenfalls aber in geistvoller Weise auf das Gedächtniss der Materie, auf eine Gewöhnung des Keimes an die dem Mutterorganismus eigenen Besonderheiten zurückgeführt. – Es muss daher wunderbar erscheinen, wenn grosse Geister wie z. B. Buckle, die einer streng naturwissenschaftlichen Bildung entbehrten, solche durch tausendfache Beobachtung erstarkte Ansichten nicht nur nicht theilen, sondern sogar direct wegläugnen wollen. – Der genannte Schriftsteller erklärte nicht nur den Weg, auf welchem die für die Vererbung von moralischen Eigenschaften, als Talenten, Fehlern imd Tugenden, sprechenden Facta gewonnen wurden, als im höchsten Grad unlogisch; er warnt auch an die Existenz von hereditärem Irrsinn oder hereditären Krankheiten überhaupt zu glauben. (Buckle History of Civilisation Vol. I. Ch. IV.)

Wenn wir uns also auch in keinerlei Discussion über die Existenz einer Erblichkeit einzulassen brauchen, so müssen wir dieselbe doch als ein grosses, unerklärtes Räthsel ansehen, zu dessen Lösung solche Thatsachen wie die folgenden direct wohl nur wenig beitragen können; sie werden aber vielleicht im Stande sein, gewisse Anhaltspunkte für künftige Erklärungsversuche abzugeben und dadurch mittelbar auch einiges Licht in dieser Frage zu verbreiten vermögen.

Sehen wir ganz ab von der Vererbung solcher Merkmale, welche noch innerbalb der Grenzen des Normalen fallen, so findet sich auf pathologischem Gebiete die Tendenz zu einer erblichen Uebertragung besonders stark ausgesprochen bei den Erkrankungen des Nervensystems. – Jede Statistik aber, die uns Auskunft geben soll über das genaue percentische Verhältniss der ererbten Nervenkrankheiten, die den relativen Werth der Heredität als ätiologisches Moment für das Entstehen der Neurosen im weitesten Sinne des Wortes vor Augen stellen soll, darf nur mit der grössten Reserve angesehen werden. – Denn die ungebildeten Menschen haben es zu wenig gelernt, sich und andere zu beobachten, übersehen vielzuleicht ganz gewichtige Symptome, um in dieser Hinsicht vertrauenswürdige Daten angeben zu können, und von den gebildeteren Classen ist es bekannt, dass sie oft genug aus falscher Scham den Arzt hintergehen, und in ihrer Familie vorgekommene Erkrankungen verschweigen.

Dennoch wird in nicht wenigen Fällen eine hereditäre Anlage nicht schwer zu ermitteln sein; so war beispielsweise in 25% der in den letzten Jahren von mir beobachteten Geisteskranken eine erbliche Prädisposition ganz decidirt nachzuweisen; in 28% wurde eine solche abgeläugnet, und in 47% endlich waren die Angaben so ungenügend, dass sich diese Fälle in keine der beiden erstgenannten Kategorien einreihen lassen.

Speciell für die Epilepsie, die uns hier am meisten interessirt, stimmen die meisten Angaben dahin überein,.dass in etwa 30% eine erbliche Belastung nachgewiesen werden kann.

Es ist jedenfalls zu weit gegangen, mit Moreau fast immer eine erbliche Prädisposition anzunehmen, es ist aber eben so unrecht, und diess erhellt auch aus den folgenden Versuchen, die Epilepsia hereditaria durch eine Epilepsia congenita verdrängen zu wollen, indem man z. B. wenn der Vater an dieser Krankheit leidet, angibt, dass die Mutter während der Schwangerschaft von dem Anblick der Krämpfe ihres Mannes lebhaft ergriffen und irritirt worden und durch diesen psychischen Eindruck der Keim zur künftigen Krankheit des Kindes gelegt worden sei.

Bei dieser Unsicherheit in der Beurtheilung der hereditären Anlage, bei dieser Schwierigkeit die wahren Zahlen aufzufinden, dürfen einschlägige Versuche an Thieren doch einen gewissen Werth beanspruchen, um so eher, als man das Materiale besser in seiner Hand hat, und die Versuchsbedingungen nach Belieben so variiren kann, wie es für den einzelnen Fall eben zweckmässig erscheinen muss.

Ich habe mir nun zu meinem Zwecke 3 Zuchten von Meershweinchen angelegt, in deren jeder sich ein Männchen mit 5 bis 8 Weibchen befindet. In der ersten ist das Männchen operirt, die Weibchen gesund, in der zweiten habe ich zu einem gesunden Männchen lauter epileptische Weibchen gesperrt, und die dritte Zucht besteht ausschliesslich aus epileptischen Thieren. – So oft sich ein Weibchen als trächtig erweist, wird es isolirt und bleibt zu ihrem und der Jungen Schutze noch etwa eine Woche nach der Geburt mit diesen allein. – Alle Thiere werden mit genauer Angabe der Farbe in das Protokoll eingetragen.

Ich verfüge im Ganzen über mehr als 40 von kranken Eltern abstammende Meerschweinchen; die Zahl wird dadurch verringert, dass die Fruchtbarkeit der operirten, epileptischen Thiere keine so bedeutende ist, wie die der gesunden. Von diesen Jungen kann ich aber wieder nur 32 verwenden, indem ich bei den aus den ersten Zeiten stammenden noch keine genauen Aufscbreibungen über die Eltern und deren Krankheitszustand geführt habe.

Diese 32 lassen sich in folgende Tabelle zusammenfassen:



Die Jungen waren
Von den Eltern war krank normal schwach paretisch epilept. u. paretisch augen-krank zusammen
Das Männchen 11 2 - 1 3 17
Das Weibchen 2 8 3 - - 13
Beide - 1 - 1 - 2
 
  13 11 3 2 3 32


Ich bin noch nicht in der Lage anzugeben, ob die grössere Anzahl der Jungen, die vom kranken Männchen stammen, und die so geringe Zahl der Thiere, deren beide Eltern epileptisch waren, auch auf eine verschiedene Beeinflussung der Fruchtbarkeit zurückgeführt werden kann, indem die drei oben beschriebenen Zuchten nicht gleichzeitig und unter etwas verschiedenen Bedingungen angelegt wurden.

Das wird aber jedenfalls auffallen müssen, dass von dem epileptischen Männchen 11 gesunde und nur 6 kranke Thiere, also etwas mehr als der dritte Theil, stammen, während die kranken Weibchen nur sehr wenige (kaum 1/7), beide kranken Eltern gar keine ganz gesunden Jungen hatten.

Wir können aus diesem Vergleiche mit einem gewissen Rechte, soweit diess eben die geringe Anzahl der Beobachtungen erlaubt, den Schluss ziehen, dass der von Seite der Mutter auf den Keim wirkende krankhafte Einfluss ein kräftigerer und wirksamerer sei, als der von Seite des Vaters, dass aber bei beiderseitiger Erkrankung sich die Einwirkungen summiren. – Doch halte ich mein Material für zu gering, um diesen Punkt in die Form eines allgemein giltigen Gesetzes zu kleiden.

Ich will nun zunächst daran gehen, die verschiedenen in der Tabelle angeführten Symptome, welche sich an den Nachkommen der epileptisch gemachten Meerschweinchen zeigten, näher zu besprechen.

In der ersten Rubrik stehen diejenigen Thiere, welche sowohl gleich nach der Geburt, als auch noch mehrere Wochen darnach auch bei genauester Untersuchung keine Abnormität erkennen liessen. – In die zweite Rubrik sind solche Thiere eingetragen, welche sich alsbald nach der Geburt durch besondere Kleinheit, Hinfälligkeit und Schwäche auszeichneten; auch im weiteren Verlaufe liess sich an diesen ein gewisses marastisches Zunückbleiben im Wachsthum erkennen, und die meisten von ihnen gingen schon bald, oft in den ersten Tagen, zu Grunde. – Es muss hier bemerkt werden, dass die Meerschweinchen schon wenige Minuten nach der Geburt, nachdem sie noch nicht einmal trocken sind, ganz frisch und selbstätindig umherlaufen, was bei den oben erwähnten Jungen, soweit ich sie gleich nach ihrem Eintritte in die Welt beobachten konnte, nie oder nur im beschränkten Maasse der Fall war.

In der dritten Reihe finden sich Thiere, welche auffallende Lähmungserscheinungen (bei allen dreien an den Hinterextremitäten) zeigten; meist war die Lähmung keine vollständige, und an den beiden Beinen verschieden stark entwickelt; betrachtet man solche Thiere, so lange sie ruhig auf dem Tische stehen, von vorn, so sieht man, dass der ganze Körper nach der schwächeren Seite hinüberhängt.

An der vierten Stelle finden sich jene beiden Thiere verzeichnet, bei welchen nach Kneipen in der epileptogenen Zone sich ein vollständiger epileptischer Zufall einstellte; beide waren übrigens im hohen Grade schwach, und zeigten die unter Nr. 3 angegebenen Lähmungserscheinungen in noch auffallenderer Weise. Bei dem einen derselben waren auch die Vorderbeine, besonders das rechte, von der Lähmung ergriffen; das letztere wurde fortwährend nachgeschleppt, so dass sich auf der Vorderseite der Extremität, welche dabei fortwährend den Boden schleifte, Geschwüre bildeten.

Leider gingen beide Thiere, da sie wenig lebensfähig waren, in kurzer Zeit zu Grunde. – Brown-Séquard gibt an (The Lancet vom 2. Jänner 1875), dass sich bei solchen hereditär-epileptischen Jungen regelmässig dieselben oder ähnliche Defecte an den Zehen wiederfinden, welche bei den Eltern in Folge der Nervendurchschneidung beobachtet wurden; ich finde in meinen Protokollen darüber nichts angegeben, und glaube, dass mir ein so auffallendes Merkmal nicht entgangen wäre, obwohl meine Beobachtungen aus einer viel früheren Zeit stammen, als aie erwähnte Notiz von Brown-Séquard.

Endlich müssen noch drei junge Meerschweinchen erwähnt werden, welche im übrigen normal erschienen, aber an der Cornea des rechten Auges eine auffallende und übereinstimmende Erkrankung aufwiesen. Zunächst zeigte sich eine Trübung, weissliche Färbung der Cornea, welche in einem Falle über 1/3 der ganzen Oberfläche einnahm, späterhin kam es zur Geschwürsbildung und zum Durchbruch, die Sensibilität der Cornea war dabei intact. – Diese drei Thiere leben noch, und ich habe dieselben behufs weiterer Beobachtung nicht opfern wollen. – Es war mir aber dieselbe Erscheinung an einem der ersten, noch nicht in die Tabelle aufgenommenen Jungen aufgefallen, welches ich auch secirte. Es schien der mediane Theil des Nervus Trigeminus an der Seite des erkrankten Auges graulich, durchscheinend.

Nach den Augaben von Meissner (Zeitschr. für rat. Medizin XXIX. B.) genügt die Durchschneidung der innersten Fasern des N. Trigeminus, um die bekannten neuroparalytischen Erscheinungen an der Cornea hervorzurufen, mit Erhaltung der Sensibilität. – Es scheint mir daher am nächsten zu liegen, dio eben besprochene Augenerkrankung mit der Degeneration des N. Trigeminus in Zuhammenhang zu bringen und sie, ohne mich hier in eine Discussion nach der fraglichen Existenz von trophischen Nerven einzulassen, als einen nervös-trophischen Zustand anzusehen.

Wenn wir nun fragen, welche weiteren Schlüsse aus den angegebenen Thatsachen zu ziehen wären, so drängt sich begreiflicher Weise zunächst die Gewissheit auf, dass die Nervenkrankheiten, im speciellen die Epilepsie, erblich übertragbar sind; – ich habe ebenso wenig wie Brown-Séquard je ein Meerschweinchen spontan epileptisch werden gesehen.

Doch will ich auf diesen Punkt nicht weiter eingehen, indem die oppositionelle Ansicht als überwundener Standpunkt angesehen werden kaan. Was aber unser Interesse im hohen Grade in Anspruch nehmen muss und worauf Brown-Séquard in seiner letzten Publication besonders aufmerksam macht, ist der Umstand, dass wir hier rein accidentelle Zustände, zufällige lange nach der Geburt entstandene Difformitäten oder die aus ihnen hervorgehenden Erscheinungen auf die Nachkommen sich vererben sehen.

Es ist diess, wenn auch eine sonst von vielen Seiten bestrittene, doch keineswegs ganz neue Thatsache. Um von weiteren Thierexempeln abzusehen, will ich nur einige alte Fälle vom Menschen anführen. – So erwähnt Blumenbach eines Officiers, dem in seiner Jugend der kleine Finger der rechten Hand zusammengehauen und krumm geheilt war; seine sämmtlichen Kinder brachten einen verkrümmten kleinen Finger der rechten Hand zur Welt.

Einen zweiten Fall brachte Hohl (Deutsch. Archiv 1828). Ein junger Mann erlitt eine Verletzung des rechten Auges, in deren Folge eine Verzerrung der Pupille und ein bräunlicher Pigmentfleck an der Iris zurückblieb. Bei mehreren seiner Kinder fand sich entweder dieselbe oder wenigstens eine ähnliche Abnormität des rechten Auges. Das bekannte umfangreiche Werk von Prosper Lucas (Traité philosophique et physiologique de l’hérédité naturelle. Paris 1850. 2 Bde.) ist sehr reich an weiteren Beispielen dieser Art.

Es wird aber durch diese Versuche auch noch ein anderes Factum klargestellt. Von den 19 Jungen, welche eine hereditäre Erkrankung des Nervensystems gezeigt haben, waren bloss zwei mit denselben Zuständen wie die kranken Eltern mit Epilepsie behaftet; bei 11 war eine allgemeine, marastische Schwäche, bei 3 eine trophische Augenerkrankung zugegen, und 3 andere zeigten eine Lähmung der Hinterbeine. Es hat sich also die erblich überkommene Erkrankung bei den Nachkommen oft in anderer Form als bei den Eltern, und bei den verschiedenen Jungen selbst wieder in wechselnder Gestalt gezeigt.

Die Pathologie liefert uns zahlreiche Beweise einer ähnlichen Mutabilität bei der Vererbung von Krankheiten auch für den Menschen; doch bewegt sich dieser Wechsel immer noch in gewissen Grenzen – für den uns zunächst interessirenden Fall für die Vererbung von Neurosen kann angenommen werden, dass der Boden des Nervensystems als erkranktes Substrat nicht verlassen wird. Man kann demnach nicht von einer erblichen Anlage sprechen, wenn die Kinder eines epileptischen Vaters von Lungenphthyse befallen werden; wohl aber spricht man von einer hereditären Uebertragung, wenn man die Kinder hysterischer, nervöser Personen geisteskrank werden sieht, oder umgekehrt. – Selbst in dem engeren Rahmen der Psychosen können bei den einzelnen Generationen und Individuen die Formen, unter welchen die Geisteskrankheit zum Ausdruck gelangt, mannigfach variiren, wenn auch in gewiss nicht wenig Fällen alle diese Formen von hereditärer Geisteskrankheit manches charakteristische und wohlbekannte Merkmal gemeinsam haben, worauf ich hier nicht einzugehen brauche.

Portal, Piorry, Gintrac, Lucas und viele andere Autoren erkennen nicht bloss das Factum sondern auch die Häufigkeit dieser Transformationen an. – Manche, besonders aber Moreau (des facultés morales pag. 91) gingen darin sogar soweit, die Heredität eines speciellen Nervenübels vollkommen in Zweifel zu ziehen; sie meinten, es würde nur ein gewisser in allen Fällen gleicher oder ähnlicher krankhafter Zustand des Nervensystems bei den Nachkommen erzeugt, auf dessen Grundlage dann bei den verschiedenen Individuen die Erkrankung in einer beliebigen Form auftreten kann.

Mag diess nun auch zu weit gegangen sein, unsere Thiere geben uns wenigstens den stricten Beweis, dass ein derartiges Variiren in der hereditären Uebertragung von Nervenkrankheiten statt hat.

Zum Schlusse muss ich noch einer Thatsache Erwähnung thun, die sicherlich auch eine gewisse Bedeutung beanspruchen darf.

Bei Anlegung der verschiedenen Zuchten habe ich getrachtet, Männchen von einer charakteristischen Färbung auszuwählen. So zeichnet sich z. B. das kranke Männchen, das mit den gesunden Weibchen zusammengesperrt wurde, durch eine intensiv schwarze Nase aus, während im Uebrigen die weisse Farbe an demselben überwiegt. – Von den 12 Jungen, welche in den letzten Monaten aus dieser Zucht stammen, sind 8 ganz normal, eines war sehr schwach und starb bald nach der Geburt, und drei zeigten die oben ausführlicher beschriebene Erkrankung der Cornea. Diese drei letstgenannten brachten dieselbe auffallende schwarze Nase mit auf die Welt, welche den Vater charakterisirt.

Es muss daher angenommen werden, dass an diesen dreien, welchen eine krankhafte Anlage erblich übertragen worden war, der Einfluss des epileptischen Männchens ein derartig überwiegender war, dass auch die äusserliche Aehnlichkeit eine in die Augen springende wird; bei den 8 Gesunden, welchen dieses Kennzeichen durchaus abging, dürfen wir uns dagegen den mütterlichen Einfluss als überwiegend denken.

Ueberblicken wir noch einmal kurz die Ergebnisse der im voranstehenden mitgetheilten Züchtungsversuche, fragen wir nach den Gesetzen, die sich daraus ableiten lassen, so können wir dieselben folgendermassen zusammenfassen:

1. Das Gesetz der erblichen Uebertragung accidenteller Erkrankungen;
2. Das Gesetz des Variirens in der hereditären Uebertragung von Nervenkrankheiten;
3. Das Gesetz des überwiegenden väterlichen oder mütterlichen Einflusses.

Zum Schlusse muss ich noch die Bemerkung anfügen, dass ich mir sehr wohl bewusst bin, mit der Anführung dieser drei eben mitgetheilten Gesetze keine neuen Theorien vorgebracht zu haben; ich habe mich im Gegentheil sogar bemüht immer nachzuweisen, dass die Kenntnis dieser Gesetze bereits von langer Zeit her datirt, und habe die angeführten Belege fast ausschliesslich aus der älteren Literatur gewählt.

Ebensowohl sehe ich auch ein, dass sich jetzt noch kein weitgehendes praktisches Interesse an solche Erkenntnisse knüpft: ich bin aber auch fest davon überzeugt, dass derartige anscheinend unfruchtbare, unverwerthbare Naturgesetze den Ausgangspunkt bilden können für manchen wichtigen Aufschluss in dunklen Gebieten der Nervenphysiologie wie der Zeugungslehre.




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